Berlin Fanmeile WM 2006

Der schönste Sommer

Der schönste Sommer

Public Viewing, Fähnchen an den Autos, ein neues Maß an Begeisterung für die Nationalmannschaft: Das „Sommermärchen“ 2006 hat verändert, wie die Deutschen zum Fußball stehen. Ein Interview mit dem Kulturwissenschaftler Timm Beichelt über eine besondere Zeit und wie sie bis heute nachwirkt.

Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien und lehrt an der Viadrina in Frankfurt/Oder. In seinem 2018 erschienen Buch „Ersatzspielfelder – Zum Verhältnis von Fußball und Macht“ befasst Beichelt sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit der Funktion, die der Fußball in der Gesellschaft hat. Wir sprachen mit ihm über die Weltmeisterschaft 2006 und die Frage, ob und wie das Turnier Deutschland verändert hat.

Herr Beichelt, wie haben Sie die Weltmeisterschaft 2006 erlebt?

Timm Beichelt: Ich bin Hochschullehrer. Das Sommersemester läuft typischerweise vom 15. April bis zum 15. Juli. Das Finale fand am 9. Juli statt. Von daher konnte ich viele Spiele gar nicht verfolgen, da die WM in meine intensivste Arbeitszeit des Jahres fiel. Man könnte sagen, dass ich das Turnier dadurch mit einer gewissen Distanz verfolgt habe.

Sie haben das Turnier also nur in Teilen wahrgenommen?

Genau. Bei der WM 2006 gab es in Deutschland ja zum ersten Mal in diesem großen Umfang Public Viewings und die Möglichkeit, überall auf der Straße die Spiele anzuschauen. Nach getaner Arbeit konnte ich mich dann abends hin und wieder dazu setzen. Was ich mit Distanz meine, ist, dass ich das komplette Turnier nicht wie in einem Rausch verfolgen konnte.

Public Viewing war ein Novum bei der WM 2006. Seitdem gehört es praktisch zu jeder Endrunde dazu.

Das stimmt. Allerdings nur, wenn man es auf Deutschland bezieht. Auch bei der WM 2002 gab es in Südkorea riesige Public Viewings. In Deutschland hat das damals wegen der Zeitverschiebung nicht fußgefasst. Hier ging es tatsächlich mit der WM 2006 los.

Der WM und der dauernden Festtagsstimmung, die sie auslöste, konnte man gar nicht entfliehen. Das galt zumindest für Berlin. Selbst wenn man nicht an Fußball interessiert war, allein schon durch die ganzen Fans aus den anderen Ländern, die omnipräsent waren. Ging Ihnen das auch so?

Das war einer der Gründe, warum ich mein Buch geschrieben habe. Mich hat die Frage interessiert, wie es eigentlich dazu kam, dass Menschen, die bis dato mit Fußball nichts am Hut hatten, sich plötzlich für die WM interessierten. Warum wurde Fußball für diese Menschen plötzlich relevant? Im Vergleich zum Beispiel zur WM 1974, wo die Spiele primär von einem Teil der männlichen Bevölkerung verfolgt wurden. Mittlerweile ist es ein gesamtgesellschaftliches Phänomen geworden, das – Stichwort Champions League – Europa fast jede Woche mit dem Rest der Welt verbindet. Für Deutschland markiert die WM 2006 darüber hinaus einen Moment, an dem zum ersten Mal Fans anderer Nationen in Autokorsos durch die Städte gefahren sind. Dadurch wurde vielen Deutschen auf einmal deutlich, wie international und vielfältig ihre Gesellschaft ist.

Das offizielle Motto war ja „Die Welt zu Gast bei Freunden“.

Ich glaube, dass dieses Motto dem gemeinen Fan nicht wichtig war. Der braucht kein Motto und lässt sich das nicht verordnen. Dass die WM zu so einem Ausnahmeturnier wurde, hat auch mit Faktoren zu tun, die nichts mit Fußball zu tun hatten. Das Wetter war traumhaft. Was ja die Public Viewings erst möglich gemacht hat. Und es war auch eine Phase, in der sich die Mannschaft bewusst in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Es gab junge Sympathieträger, etwa Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger, deren Aussagen nicht vorher mit der PR-Abteilung abgestimmt waren. Dass die DFB-Auswahl darüber hinaus von Beginn an attraktiven Fußball spielte, war natürlich auch elementar. All diese Faktoren sorgten für eine sehr positive Grundstimmung bei der fußballinteressierten Bevölkerung und das hat dann auf die Gesamtbevölkerung ausgestrahlt.

Und plötzlich wurde die Gastfreundschaft und eine bisher unbekannte Lockerheit der Deutschen international gerühmt. Hat sie das überrascht?

Als Wissenschaftler würde ich sagen, dass es eine Untersuchung wert wäre, ob dieses Narrativ nicht auch schon vorher vorhanden war. Oder ob die gerühmte Lockerheit der Deutschen wirklich das ist, was im Ausland über uns gedacht wird. Jedenfalls waren die deutschen Medien und die deutsche Öffentlichkeit damals gerne bereit, Äußerungen in diese Richtung aufzugreifen. Im deutschen kollektiven Gedächtnis hat sich das festgesetzt, das stimmt schon.

Der Umgang mit der deutschen Flagge war definitiv auch neu. Schwarz-rot-gold war während des Turniers zum ersten Mal omnipräsent. Da gab es ja einige Debatten, ob das jetzt unpolitischer Party-Patriotismus ist oder der erste Schritt, Nationalismus die Bühne zu bereiten. Wie sehen sie das?

Das gab es vorher in der Tat so nicht. Ob es aber wirklich um Nationalismus geht? Bei der Entwicklung nationalistischer Phänomene, nehmen wir Pegida oder die AfD als Beispiele, spielt Fußball fast überhaupt keine Rolle. Hier darf man nicht Anlass und Auslöser verwechseln. Allerdings gibt es eine interessante Sache, die bei dieser Flaggenthematik manchmal übersehen wird: Auch Nichtdeutsche und nicht in Deutschland Geborene haben die Flagge verwendet und als Identifikationssymbol genutzt. Bei großen Turnieren kann man seither viele Autos sehen, an denen sowohl die deutsche als auch eine andere Flagge flattern. Diesen Aspekt finde ich fast interessanter als das Gerede über Party-Patriotismus. Auf Partys verkleidet man sich halt mal. Beim Fußball kann das dann eben eine Fahne sein. Ich glaube, dass das recht oberflächlich ist – schon ein paar Tage nach einem Turnier sieht man ja kaum noch Fahnen im öffentlichen Raum. Die wichtigeren Themen sind auf der einen Seite das Erstarken des echten Nationalismus, der meiner Meinung aber nur begrenzte Bezüge zum Fußball hat, und eben die Verständigung darüber, wer eigentlich zum deutschen Volk dazugehört. Da hat die WM 2006 wichtige Impulse gegeben.

Bei der Entwicklung nationalistischer Phänomene spielt Fußball fast überhaupt keine Rolle. 
Timm Beichelt
Kulturwissenschaftler

Die allgemeine Ausgelassenheit und Eintracht der Fans untereinander korrespondierte auf jeden Fall sehr gut mit dem gefühlten fußballerischen Aufschwung der deutschen Mannschaft.

Durchaus. In meinem Buch vertrete ich aber auch die These, dass diese Art von Interpretation sehr vom fußballerischen Erfolg abhängt. Das Spiel gegen Polen zum Beispiel wurde im Nachhinein als der große Durchbruch gefeiert. Weil kurz vor Schluss noch der Siegtreffer gelang. Und zwei Spieler eher unbekannte Spieler, Oliver Neuville und David Odonkor, maßgeblich daran beteiligt waren. Das Ganze hätte auch ganz anders ausgehen können.

Weswegen denken wir bis heute so intensiv an diese Augenblicke zurück?

Die Faszination des Fußballs besteht darin, dass die Unsicherheit in unser Leben zurückgeholt wird. In unseren spätmodernen Gesellschaften kommt es sehr darauf an, das Leben vorherseh- und berechenbar zu machen. Unsicherheiten bedrohen uns, aber andererseits gehören sie zum Leben dazu. Der Fußball hat die Fähigkeit, uns genau das vor Augen zu führen. Alle wissen, dass Zufall eine wichtige Rolle spielen kann. Gleichzeitig sind im Fußball die Konsequenzen für den Einzelnen dann doch begrenzt, wenn mal etwas Unvorhersehbares passiert.

Sie halten es also für schwierig, gesamtgesellschaftliche Prozesse und besondere Fußballereignisse rückblickend miteinander in Beziehung zu setzen und so eine Erzählung über eine bestimmte Zeitspanne zu konstruieren?

Wenn Rückblicke zu eindimensional ausfallen, wird es trügerisch. Es lassen sich Erzählungen konstruieren, aber sie bleiben konstruiert. Zum Beispiel: Anfang der 2000er-Jahre war Deutschland wirtschaftlich noch stark in der Krise. Die Arbeitslosigkeit war hoch und die Stimmung schlecht. Der Umschwung kam mit der Hartz- IV-Reform, die zu einem Umschwung auf dem Arbeitsmarkt führte. Der Trend setzte sich nach der WM fort. Daher sieht es im Rückblick wie ein Aufbruch aus. Aber es kommt eben darauf an, wer die Erzählung konstruiert. Der Aufschwung ging ja ganz unmittelbar zu Lasten eines Teils der Arbeitslosen. Für diese Menschen hatte das, was von vielen „Aufschwung“ genannt wird, deutliche Schattenseiten. Wer im Feld des Fußballs unterwegs ist, z.B. Spieler, Trainer oder Sportjournalisten, neigt zur ersten Erzählungen. Sie können auf ein fünfzehnjähriges Wachstum zurückschauen, das es so zuvor nie gegeben hatte. Da passt die Erzählung vom Aufschwung besser zur eigenen Lebenserfahrung als die Erzählung von den Schattenseiten.

Sommermärchen 2006 Fanmeile Berlin
Die größte Fanmeile der WM 2006 gab es in Berlin. Bis zu 750.000 Menschen schauten dort gemeinsam die Deutschland-Spiele

Bei aller Kritik an Gehältern und Ablösesummen: Fußball ist so populär wie nie zuvor.

Das ist zweifelslos richtig. Als Wissenschaftler interessiert mich daran der Widerspruch. Wie kommt es, dass Fußballer und Vereine nach wie vor von Fans idealisiert werden? Vielleicht handelt es sich um eine Ersatzhandlung. Egal wie schlecht es einem selbst geht, man verortet sich im Fußball und sieht auf symbolischer Ebene, wie es einem in einer Art Parallelwelt gehen könnte. Das ist der Spagat, den der Fußball zu schaffen vermag. Und das ist auch eine gewaltige Leistung. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass sich die Bedeutung eines jeden Symbols schnell ändern kann. Früher galten Banker als ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft, heute werden sie von vielen als Raffzähne angesehen. Es kann auch dem Fußball passieren, dass er nicht mehr für gesellschaftlichen Aufschwung steht, sondern auf einmal als Verkörperung sozialer Ungleichheit gilt. Mir kommt es bei manchen Akteuren des Fußballs nicht so vor, als ob diese Gefahr überhaupt gesehen wird.

Ist das die größte Herausforderung für den Fußball momentan?

Fußball ist wahnsinnig attraktiv und populär geworden. Wenn er das weiter sein will, dann muss er zu den großen Themen der heutigen Zeit indirekte Antworten geben. Eine Zeit lang lautete die Frage: Womit identifiziere ich mich? Und da hat es der Fußball geschafft, uns die Idee nicht eindeutiger Identitäten nahezubringen. David Odonkor und Oliver Neuville kannte man vorher kaum, aber auf einmal waren sie mit ihren multinationalen Biographien an der richtigen Stelle und haben Deutschland ins Achtelfinale geschossen. Es ist aber gut möglich, dass in der nahen Zukunft die Frage eher lautet: Wie sind soziale Unterschiede in der Gesellschaft zu bewältigen? Hier müssen die Verantwortlichen des Fußballs Antworten finden – oder es wird andere geben, die diese Antworten formulieren.

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